Kaisersaschern. Ein Verein rettet die Nietzsche-Kirche in Pobles als Denkmal für die kulturelle Mitte Deutschlands.

von Jens-Fietje Dwars

1. Ein Roman macht aus Mitteldeutschland Weltliteratur

In den Jahren größter Bedrängnis, da er das Land seiner Geburt in Schuld und Asche versinken sah, stieg in Thomas Mann ein Sinnbild dieser untergehenden Welt auf: Kaisersaschern, eine Stadt „mitten im Heimatbezirk der Reformation“ gelegen, im Herzen der Luther-Gegend, südlich von Halle, gegen das Thüringische hin, mit Schloß und Dom, schon in seinem äußeren Bilde etwas stark Mittelalterliches bewahrend. „Die alten Kirchen, die treulich konservierten Bürgerhäuser und Speicher, ... ein Rathaus, im Baucharakter zwischen Gotik und Renaissance schwebend, ... – dergleichen stellt für das Lebensgefühl die ununterbrochene Verbindung mit der Vergangenheit her ...“[1]

So lesen wir mit Hochgenuß und Bedenklichkeit, denn: „in der Luft war etwas hängengeblieben von der Verfassung des Menschengemütes in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts ...“[2] Etwas Bedrohliches haftet dem Idyll an, in dem Thomas Mann seinen „Dr. Faustus“ aufwachsen läßt, den Tonsetzer Adrian Leverkühn, das Genie, das sich dem Teufel ergibt, weil es mit herkömmlichen Mitteln in der Kunst kein Fortkommen mehr sieht.

Kaisersaschern wird oft mit Naumburg gleichgesetzt, obwohl im Roman beide Städte getrennt voneinander existieren. Auch der Leverkühnsche Hof Buchel beim Dorf Oberweiler nahe Weißenfels ist nicht Röcken, in dessen Pfarrhaus Nietzsche 1844 geboren wurde. Nietzsches Vorfahren waren keine Landwirte und sein Vater hat nicht „in den elementa spekuliert“.

Jener Ort, in dessen Boden gleichsam des Kaisers Asche noch glimmt, in dessen Luft die Hysterie des ausgehenden Mittelalters noch zu schmecken sei, ist Fiktion. Symbolische Verdichtung deutscher Geschichte, der Roman ein Gleichnis für den katastrophalen Irrweg eines ganzen Volkes, dessen Anfänge Thomas Mann im ausgehenden Mittelalter erblickt – im Protestantismus als einer Brücke nach vorn und zurück, zu neuzeitlicher Selbstbestimmung und fortgesetzter Teufelsseherei. Ausdruck einer Volkskrankheit: der Verkehrung von Tatkraft in Innerlichkeit, einer Kompensation von weltscheuer Einigelung vor allem Fremden durch romantische Sehnsucht nach universaler Einheit, die zur Musik und Spekulation drängt.

Aus Thomas Manns lebenslänglicher Auseinandersetzung mit dem eigenen „Deutschtum“ erwuchs ein großer, wohl der „deutscheste“ aller deutschen Romane: voll bitterer Selbstabrechnung und heiter ironischem Spiel, modern arrangiert und zugleich spekulativ altertümlich tönend, als spräche ein Zeitgenosse Luthers zu uns über vier Jahrhunderte hinweg.

2. Zwei Maler im Zeichen von Kaisersaschern

Unter dem Titel „Made in Kaisersaschern“ touren die Hallenser Maler Moritz Götze und Rüdiger Giebler seit 2016 rund um die Welt. Von Athen bis Venice/California, in Bangalore, London und New York, von Melbourne bis Seatlle – in 30 Orten auf fünf Kontinenten haben die beiden ihre Bilder präsentiert und damit Geschichten vom Leben im heutigen Mitteldeutschland erzählt.[3] Denn sie nehmen Kaisersaschern, dieses Kunstwort Thomas Manns, ganz praktisch als ein Logo, das für den kulturellen Reichtum der deutschen Mitte steht: für das Land der Burgen und Dome, der Schlachtfelder des Dreißigjährigen Krieges und glanzvoller Barock-Residenzen, Wiege der deutschen Chemieindustrie und Zeuge blutig niedergeschlagener Arbeiteraufstände. All dies schlägt sich in ihrer Malerei nieder, von alledem berichten sie als Bilder-Botschafter in aller Welt.

2022 soll diese „Grand Tour“ an ihren Anfang zurückkehren: nach Sachsen-Anhalt. Aber nicht nach Halle oder Magdeburg, ausgerechnet in Pobles soll sie enden, in einem Ort, der so klingt, als sei er auch das Ende der Welt. Und tatsächlich: wer sich hier her verirrt, abseits der Landstraße zwischen Weißenfels und Leipzig, noch hinter Poserna gelegen, den beschleicht ein schauerliches Gefühl. Hier scheint sich der Alptraum Nietzsches erfüllt zu haben: seine Prophezeiung vom Tod Gottes hat sich in der hiesigen Kirche St. Gangolf, ein Wahrzeichen geschaffen. Die steht zwar noch immer inmitten des Dorfes, doch ist ihr Dach längst eingestürzt und zerbröckeln ihre Mauern seit drei Jahrzehnten unaufhaltsam. Selbst die Landeskirche hat sie aufgegeben, hat den 1326 erstmals erwähnten Bau entwidmet und überläßt ihn der zersetzenden Macht der Natur ... Und doch hat sich im Herbst 2020 ein Verein gegründet, der die Kirche retten, ihre Ruine in eine Ausstellungshalle umbauen will. Warum nur?

3. Das Nietzsche-Erbe von Pobles

Nietzsche hielt sich zeitlebens für den Nachfahren eines polnischen Adligen. Stolz glaubte er, slawisches Blut rebelliere in seinen Adern gegen den bloßen Zufall einer Geburt im Herzen Deutschlands. Tatsächlich lebte der früheste Stammvater der Nietzsches um 1570 bei Burkau in der Oberlausitz, die über Jahrhunderte hinweg Siedlungsgebiet von Slawen war. Doch zog der Sohn des Fleischhauers Christoph Nietzsche nach Bibra an die Unstrut und stammten weitere Vorfahren zu einem Teil aus West-Sachsen von Plauen bis Zeitz sowie zum anderen aus dem Norden Thüringens von Langensalza bis Sangerhausen.

Nietzsches Urgroßvater, der Kurfürstliche General-Acciseninspektor, kurz: Steuereintreiber Gotthelf Engelbert Nietzsche, heiratete 1740 in Bibra Johanna Amalia Herold, die Enkelin eines Weißenfelser Mathematikprofessors und späteren Superintendenten von Heldrungen. Ihr Zweitgeborener, Friedrich August Ludwig Nietzsche, studierte Theologie und nahm die Tochter des Amtsschössers von Goseck, Johanna Friederica Richter, zur Frau. Deren Großvater wiederum war Hauslehrer in Pobles, bevor er Pfarrer von Markwerben bei Weißenfels wurde. Und wäre Johanna nicht nach neun Kindern 1801 in Eilenburg verstorben, wo Friedrich August zum Superintendenten aufgestiegen war, so hätte sie vielleicht ihrem Enkel Friedrich erzählen können, wie viele Familienbande ihn ans Saaletal fesselten.

Doch der Kirchenmann heiratete erneut. Erdmuthe Krause, die zwanzig Jahre jüngere Witwe eines Weimarer Hofadvokaten, gebar ihm noch einmal drei Kinder. Ihr Sohn Karl Ludwig folgte dem Vater, wurde nach einem Theologiestudium Prinzessinnenerzieher in Altenburg und erhielt 1842 das Pfarramt über die Gemeinde Röcken zwischen Weißenfels und Lützen – keine fünf Meilen von Pobles entfernt. Schon bei seinem Antrittsbesuch im Nachbarort soll der neue Pastor sich in die jüngste Tochter seines Amtsbruders verliebt haben. Im Oktober 1843 wird er mit der siebzehnjährigen Franziska Oehler getraut und ein Jahr später, am Geburtstag des Königs von Preußen, erblickt ihr erstes Kind das Licht der Welt: Friedrich Wilhelm Nietzsche.

Wichtiger als das verwirrende Labyrinth der leiblichen Abstammung ist freilich das geistige Erbe, das sich wie ein roter Faden durch all diese Zufälle von Liebe, Laune und Berechnung hindurchzieht: Zwanzig direkte Vorfahren Nietzsches waren Pfarrer, Statthalter musischer Bildung auf dem Lande und Stützen der Obrigkeit. Solch kulturelle Prägung, als Erziehungsmuster von Generation zu Generation weitergegeben, reicht tiefer als die regionale Herkunft.

„... was ich heute erlebe, ist doch das Größte, das Herrlichste, mein Kindlein soll ich taufen! O seliger Augenblick, o köstliche Feier, o unaussprechlich heiliges Werk, sei mir gesegnet im Namen des Herrn! – Mit dem tiefbewegtesten Herzen spreche ich es aus: nun so bringet denn dies mein liebes Kind, daß ich es dem Herrn weihe. Mein Sohn, Friedrich Wilhelm, so sollst Du genennet werden auf Erden, zur Erinnerung an meinen königlichen Wohltäter, an dessen Geburtstag Du geboren wurdest.“[4]

Man schrieb den 24. Oktober 1844, als der Pfarrer von Röcken diese altertümlich pathetischen Worte sprach. Daß sein Sohn am 15. Oktober, am Ehrentag des Königs, zur Welt kam, das galt ihm als ein wundervolles Zeichen. Denn Friedrich Wilhelm IV. hatte ihm das Amt persönlich anvertraut, nachdem sie einander am Altenburger Hof begegnet waren. Der Junge ist ein Königskind, ein Unterpfand zu höherer Berufung. Und so stellt der stolze Mann die Taufe unter Lucas 1, Vers 66: „Was, meinest du, will aus dem Kindlein werden?“

In Friedrich Nietzsches Erinnerungen taucht der Vater nur als das „vollendete Bild eines Landgeistlichen“ auf: geist- und gemütvoll, mit allen Tugenden eines Christen geschmückt, habe er ein stilles, einfaches, aber glückliches Leben geführt.[5] „Feines Benehmen“ und Liebe zur Musik, an diesem Erbe einer jahrhundertelang gepflegten Pfarrhauskultur wird er bis zuletzt, auch nach seinem Bruch mit der christlichen Religion, festhalten.

Dem Vierjährigen mag der Vater für Augenblicke wie Gott erscheinen, wenn er Sonntags in der Kirche, vom Kanzelaltar herab, die Erlösung von allem Leid verkündet. Um so furchtbarer erlebt das Kind die Macht einer nicht enden wollenden Krankheit. Ende Februar 1848 hatte die Mutter den Bruder Joseph geboren, zwei Jahre zuvor die Schwester Elisabeth. Nur der Aufruhr in Berlin, der den König zwang, sich vor den Märzgefallenen zu verneigen, warf einen leichten Schatten auf das junge Glück. Dem Vater ging die Demütigung seines Patronatsherren derart zu Herzen, daß er sich stundenlang einschloß. Im August begann er über Kopfweh zu klagen, das ihn für Tage, Wochen und Monate ins Bett zwang. Immer wieder unterbrochen von Momenten scheinbarer Besserung, bis er erneut aufschrie vor Schmerz, sein Augenlicht verlor und man endlich einen Arzt aus Leipzig befragte, der ratlos auf „Gehirnerweichung“ schloß.

Wie oft mußte die Familie den gütigen Herrn im Himmel anflehen, er möge sich ihres Oberhauptes, seines treuen Dieners erbarmen, ihn verschonen von der unverdienten Qual. Nicht nur Frau und Kinder, auch die Mutter des Vaters sowie dessen Schwestern Auguste und die selbst „an den Nerven“ leidende Rosalie lebten und bangten mit ihnen im engen Pfarrhaus. Doch aller innigsten Bitten zum Trotz starb der geliebte Mann, Sohn und Bruder am 30. Juli 1849. Und als sei der Schrecken nicht genug, folgt ihm ein halbes Jahr darauf sein jüngstes Kind.

Friedrich aber befiel in der Nacht, bevor das „Josephchen“ dem Zahnfieber erlag, eine merkwürdige Vision: „... ich hörte in der Kirche Orgelton wie beim Begräbniß. Da ich sah, was die Ursache wäre, erhob sich plötzlich ein Grab und mein Vater im Sterbekleid entsteigt denselben. Er eilt in die Kirche und kommt in kurzen mit einem kleinem Kinde im Arm wieder. Der Grabhügel öffnet sich, er steigt hinein und die Decke sinkt wieder auf die Oeffnung. Sogleich schweigt der rauschende Orgelschall und ich erwache. (...) Mein Traum war vollständig in Erfüllung gegangen. Die kleine Leiche wurde auch noch in die Arme des Vaters gelegt.“[6]

Der Traum schärft den Blick für Risse im allzu verklärten Idyll seiner Herkunft. Das Paradies, aus dem er im April 1850 vertrieben wird, um Platz für den nächsten Prediger zu schaffen, war längst brüchig. Schon vor der Erkrankung des Vaters zog der Vierjährige sich zurück, dem der Hausherr auch mit Schlägen Anfänge von „Widerspenstigkeit“ austrieb. Sein Lieblingsplatz war ein großer freier Garten mit Teichen, dann erst die väterliche Bibliothek und nie die Kirche, deren Inneres er nur düster und dumpf beschreibt.

Der Traum verdichtet eine traumatisch erlebte Kindheit, die Fragen aufwirft. Fragen mithin nach dem Trost eines Gottes, der ihn gnadenlos seines Vaters beraubt. Fragen, die den Jungen auf seinem Weg in die Stadt begleiten, und auf die er schon bald eigene Antworten suchen wird.

„Es war für uns schrecklich, nachdem wir so lange auf dem Lande gewohnt hatten, in der Stadt zu leben. Deshalb vermieden wir die düstern Straßen und suchten das Freie, wie ein Vogel der seinem Käfig entflieht.“[7] So beschreibt Nietzsche acht Jahre später seine Ankunft in der Beamtenstadt Naumburg, eingesperrt hinter endlosen Mauern und verloren auf ihm riesig erscheinenden Plätzen. Großmutter Erdmuthe hatte hier Verwandte, die halfen, im Frühjahr 1850 das Haus Nr. 11 in der Neugasse, der heutigen Neustraße, zu beziehen, den vormaligen Gasthof „Zum Palmenbaum“. Hier residierte die alte Dame mit ihren erwachsenen Töchtern Rosalie und Auguste an der sonnigen Straßenfront, während die Witwe mit Fritz und Elisabeth in zwei dunklen Hinterzimmern Unterschlupf fand.

Franziska Nietzsche war 23 Jahre jung. Eine schöne Frau mit großen braunen Augen und dunklem Haar, das bis ins hohe Alter seine Schwärze nicht verlieren wird. Kaum zu glauben, daß ihr niemand eine zweite Ehe angetragen haben soll. Aber vielleicht war die Trauer um den ersten Mann zu groß, saß der Schock seines Dahinsiechens zu tief, um sich noch einmal zu binden. Sie blieb allein und führte auf ihre Art ein tapferes Leben, dessen Halt die Religion war, zu der sie ihr Vater erzogen hatte.

Wäre es nach ihm, dem Pfarrer von Pobles, gegangen, so hätte Friedrich schon früh das Waisenhaus in Halle bezogen, die Franckeschen Stiftungen, die für ihre pietistische Ausbildung berühmt waren. Denn natürlich sollte der Pastorensohn einmal Theologie studieren. Doch zunächst hielt die Mutter an dem Jungen fest, der ihr 1856 seine erste Gedichtsammlung schenkt. Noch im gleichen Jahr stirbt die Großmutter, nachdem acht Monate zuvor schon Tante Auguste der Schwindsucht erlegen war.

Ihr kleines Erbe versetzt Franziska nun endlich in die Lage, einen eigenen Haushalt zu gründen. Zwar wohnt sie erneut nur zur Untermiete bei einer Frau Pastor Haarseim, nahe dem Marientor, doch stieß ein geräumiger Garten an das Gebäude, der sie aufatmen und sich frei bewegen ließ, bis sie 1858 mit ihren Kindern in den Weingarten Nr. 18 zog. Da hatte der Junge seiner Mutter schon die zweite Sammlung mit Gedichten überreicht, die viel von einem Gott sprachen, der aus Gewitter, Not und Unglück jeder Art erlöst. Das paßt zu dem Bild, das Elisabeth später von ihrem Bruder zeichnet: Eines Tages habe es in Strömen geregnet. Während alle anderen Kinder nachhause stürmten, sei Fritz langsam aus der Schule geschritten, „die Kappe unter der Schiefertafel verborgen, sein kleines Taschentuch darüber gebreitet“. Auf die Vorwürfe seiner Mutter, warum er sich nicht beeile, habe der Bruder geantwortet: „Aber Mama, in den Schulgesetzen steht: Die Knaben sollen beim Verlassen der Schule nicht springen und laufen, sondern ruhig und gesittet nach Hause gehen.“[8]

Das Bild eines Musterknaben und „kleinen Pastors“, der seine Mitschüler mit Bibelsprüchen zu Tränen rührte. Aus Nietzsches eigenen Aufzeichnungen erfahren wir, daß er in seiner Jugend schon viel Trauer und Betrübnis gesehen habe und deshalb nicht so lustig und wild gewesen sei, wie Kinder zu sein pflegten: „Meine Mitschüler waren gewohnt mich wegen dieses Ernstes zu necken.“[9]

Was hatte er nicht schon verloren: Vater, Bruder, den Heimatort, Großmutter und Tante – fast alles, was ihm einmal Halt gab. Als wäre der Tod sein treuester Begleiter. Und was ist das für ein Gott, der ihm dies alles raubt? In seinem ersten Lebensrückblick umschreibt der Vierzehnjährige den Vaterverlust mit dem Bild eines Gewitters. Auch die Gedichte für die Mutter enthalten gleich zweimal dasselbe Motiv: immer wieder bricht mit jäher Gewalt ein vernichtendes Unglück über die Leute herein. Zwar heißt es 1856, „nur der der oben wacht / Der beschützt der Menschen Güter“, doch sind es die Blitze, eben „die Schläge des Himmels“, die ihre Häuser in Brand stecken und sollen am Ende die Menschen „Erbarmen / Für die Armen“ haben, die ihr täglich Brot durch das Feuer verloren.[10] Zwei Jahre später ruft der Junge nur noch:

Erbarmen! Erbarmen!

Was bleibet uns Armen!

Die Flamme verzehret

Das, was uns nähret.

O Himmel, halt ein,

Uns schrecklich zu sein![11]

Auch wenn er nun mit Wilhelm Pinder und Gustav Krug, Söhnen von Oberlandesgerichtsbeamten, Freundschaft schloß und mit ihnen hinaus in den „freien Tempel der Natur“ zog, in die Umgebung von Naumburg wanderte. Auch wenn sein Talent den Lehrern auf dem Domgymnasium auffällt, das er ab 1855 besucht, all dies ändert nichts daran: „Von Kindheit an suchte ich die Einsamkeit und fand mich da am wohlsten, wo ich mich ungestört mir selbst überlassen konnte.“[12]

Dieser eigenartige, mit der Welt zerfallene, Junge war nicht so brav und fromm, wie es scheint. Gehorsam mußte er sein, wenn er nicht der Mutter das Leben noch mehr erschweren wollte. In einem seiner Gedichte über Menschen in Not aber heißt es:

Zun Glüke komt ein Schiff gefahren

Bei dem die Leute in Sicherheit waren

Doch nachher dankten alle Gott

Der sie erretete vom Wassertod.[13]

Die Mutter mag in den ungelenken Versen Trost gefunden haben. Lesen wir sie genauer, so gibt sich darin ein trauriger Schalk zu erkennen, der die Tragikomik des Menschseins verlacht: daß wir nur selbst einander helfen können und „nachher“ meinen, einem Gott dafür danken zu müssen.

Wie konnten solche Zweifel in dem Kind schon reifen? Elisabeths Erinnerungen sind mit Vorsicht zu genießen. Gern erlag sie der Versuchung, das Leben ihres Bruders mit Legenden auszuschmücken, die nur halb der Wahrheit entsprachen. In dem einen Punkt aber darf man ihr wohl glauben, daß es der Großvater in Pobles war, der als erster das Talent des Jungen bemerkt hat und zu fördern unternahm. Sie möge nicht allzu streng mit ihm sein, sondern stolz auf seine außerordentliche Begabung, soll er Franziska früh gesagt haben.

David Ernst Oehler entstammte einer Weberfamilie aus Zeitz, deren Vorfahren, wie der erste Nietzsche, dem Fleischerhandwerk nachgingen. Durch seine Heirat mit der Tochter eines Finanzkommissärs und Gutsbesitzers war er zu bescheidenem Wohlstand gelangt. Rokokomöbel zierten die gute Stube im Pfarrhaus, das ansonsten dem Röckener glich. Daß die Großfamilie mit ihren elf Kindern keine Not leiden mußte, hatte sie weniger der Mitgift als den Tugenden Oehlers zu verdanken. Der war nicht nur ein guter Prediger, sondern vor allem ein praktisch gesinnter Mann, der die Felder der Pfarrei noch selbst bestellte, während Nietzsches Vater sie verpachtet hatte. Er liebte das Skatspiel und die Jagd, besaß aber zugleich eine umfangreiche Bibliothek und unterwies seine Kinder in Hausmusik auf dem Klavier.

Statt sich, wie Karl Ludwig, verträumten Phantasien hinzugeben, nutzte er das Instrument zur Begleitung für den Gesang von geistlichen oder Volksliedern im allabendlichen Chor der Familie. Seelsorge hieß für ihn tätige Nächstenliebe, jenes Erbarmen für den Mitmenschen, das die Gedichte des jungen Nietzsche gegen die Schicksalsschläge des Himmels anriefen. Oehler half sich und anderen durch Mitgefühl, Arbeit und Naturheilverfahren, wie sie Franziska noch am Ende bei der Pflege ihres geisteskranken Sohnes anwenden wird.

Nach dem Tod Erdmuthe Nietzsches schrieb Fanziska an einen ihrer Brüder: „Ich muß gestehen, daß ich oft nicht Gottes Wege verstanden habe ...“. Aber, beschwichtigt sie ihre eigenen Zweifel sogleich, man müsse sich in Demut unter Gottes gewaltige Hand fügen bis man „dermaleinst“ erkennen werde, was auf Erden dunkel war. Fritz, heißt es in demselben Brief, „bleibt noch seinem Vorsatze treu, Geistlicher zu werden, setzt darum Psalmen in Musik, schreibt aber auch kleine Theaterstücke, wo diesen Winter zu aller Ergötzen bei Rat Pinders eins zur Aufführung kam“.[14]

Noch bleibt der Sohn dem Vorsatz treu, doch daß er schon die Zweifel der Mutter teilt, haben wir bereits an den Gedichten gesehen, die er ihr zum Geburtstag schrieb. Verständigungsversuche, Hilferufe eines introvertierten Kindes, dem nur die Einsamkeit halb legalen Nachdenkens bleibt, während seine Umwelt alle Fragen nach dem Grund der erfahrenen Schrecken abwiegelt, ihn auf die Demut unter Gottes gewaltiger Hand verweist und zu ständigem Gehorsam mahnt.

Nur in den Ferien atmen die Kinder auf, in Pobles, wo sie frei herumtollen dürfen, wie einst ihre Mutter. Und hier tritt Oehler an die Stelle des verlorenen Vaters, wird er zur wichtigsten männlichen Bezugsfigur für den unter lauter Frauen aufwachsenden Jungen, bis auch der Großvater 1859 stirbt. Bis dahin lehrt er ihn die Natur schätzen und Gott im Freien begreifen:

Geh ins Freie, lerne kennen

Jede Schönheit der Natur

Denn willst du das ganze nennen

Suche es im einzeln nur.

 

Sieh, ein Buch ist aufgeschlagen

Selig, wer nur darin ließt

Schwinden da nicht Leiden, Klagen

Wo der Herr des Lebens ißt.

 

Singe zu des Herren Ruhme

Steige mein Gebet empor! –

Denn in seinen Heiligthume

Tönt der Schöpfung hoher Chor. [15]

Auf die Rückseite dieser Verse vom 4. Mai 1858 hat Nietzsche die Röckener Kirche gezeichnet: von Bäumen umgeben und mit einer Lerche darüber, die zur Sonne aufsteigt. Draußen, in der Wendung zur offenen Natur, den Herrn des Lebens zu rühmen, statt im Innern der Kirche, im Raum des Todes, seine Demut zu beteuern, eine solche Haltung verdankt er wohl Oehler. Und auch daß sie sich unverkennbar in Goethes Sprache kleidet. Goethe gehörte zu den Lieblingsdichtern des erdverbundenen Pastors, neben Seume, dem Wanderer nach Syrakus, der 1763 im benachbarten Poserna zur Welt kam.

4. Mit Nietzsches Erbe mitteldeutsche Kulturgeschichte erschließen

Pobles, dieses halb vergessene Dorf mit seiner 800 Jahre alten Wehrkirche, ist genau der rechte Ort, um das andere Erbe Nietzsches und den kulturellen Reichtum Mitteldeutschlands zu erschließen. Nicht die Werkausgabe des Meisterdenkers, die findet sich in den Großstädten, den Zentren der Welt. Hier aber, in der dörflichen Provinz, in der Nietzsche aufgewachsen ist, die ihn geprägt hat, abseits der großen Welt, gilt es die gelebte Kultur aufzuspüren, die das Vergangene mit dem Gegenwärtigen verbindet. Gerade hier, wo nicht gigantische Kulturdenkmäler in Hülle und Fülle den Betrachter erschlagen, hier könnte ein Raum des Nachdenkens, der Besinnung durch Ausstellungen, Lesungen, Vorträge und Konzerte entstehen. Hier wäre im Zeichen von Kaisersaschern nach den seelischen Kontinuitäten – und Brüchen – in der Mitte Deutschlands zu fragen, nach den verhängnisvollen ebenso wie nach zukunftsträchtigen, die ins Offne eines neuen Jahrtausends führen.

Die zerfallende Kirche von Pobles zu retten und in einen solchen Denk- und Begegnungsraum umzubauen, das ist der Zwek des Kaisersaschern-Vereins zur Förderung von Kunst und Kultur Mitteldeutschlands Pobles e.V., der sich am 21. Oktober 2020 gegründet hat. Das Grab von Nietzsches Großvater David Oehler ist schon freigelegt, der „Wald“ gelichtet, der seit drei Jahrzehnten in den Trümmern des Gotteshauses gewuchert war. 40.000 EUR hat der Verein bereits auf seinem Spendenkonto gesammelt, eine Vorausstezung, um die nötigen Fördermittel zum Umbau zu beantragen. Ein Architekturbüro hat die Bausubstanz geprüft. Der Turm hat Bestand, die achthundertjährigen Wände können so befestigt und instandgesetzt werden, daß sie die Last eines neuen Daches tragen, unter dem bis 2022 jene Ausstellungsfläche entstehen soll, auf der die Bilder „Made in Kaisersaschern“ zu sehen sein werden.

Vielleicht ist der „unbekannte Gott“, dem der junge Nietzsche das Gedicht seines Lebens widmete („Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte / auch bis zur Stunde bin geblieben …“[16]), doch nicht tot, vielleicht sind wir Zeugen, wie der Geist von Kaisersaschern sich verjüngt. Und wer dabei nicht nur zusehen, sondern selbst daran mitwirken möchte, sei herzlich dazu eingeladen.

 

 


 

[1] Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1947), Berlin 1975, S. 13, 50.
[2] Ebd., S. 51.
[3] Vgl. Rüdiger Giebler & Moritz Götze. Grand Tour. Made in Kaisersaschern, Halle 2016
[4] Nietzsche, Carl Ludwig: Rede zur Taufe seines Sohnes, zit. Nach: Dwars, Jens-Fietje/Agthe, Kai: Wo liegt Kaisersaschern? Friedrich Nietzsches mitteldeutsche Herkunft und Heimholung, Bucha bei Jena 2000, S. 17.
[5] Nietzsche, Friedrich: Aus meinem Leben (1858). Mit Nietzsches Stammtafel hrsg. von Jens-Fietje Dwars, Bucha bei Jena 2006, S. 3.
[6] Ebd., S. 7.
[7] Ebd., S. 8.
[8] Dwars/Agthe 2000 (wie Anm. 4), S. 24 f.
[9] Nietzsche 2006 (wie Anm. 5), S. 9.
[10] Nietzsche, Friedrich: Hundert Gedichte. Hrsg. von Jens-Fietje Dwars, Berlin 20086, S. 15 f.
[11] ebd., S. 18.
[12] Nietzsche 2006 (wie Anm. 5), S. 9.
[13] Nietzsche 2006 (wie Anm. 10), S. 14.
[14] Dwars/Agthe 2000 (wie Anm. 4), S. 30.
[15] Nietzsche 2006 (wie Anm. 10), S. 21.
[16] Ebd., S. 47.


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